Schriftstellerin
* 16.06.1932 in Wien
† 09.04.2009 in Wien
Elfriede Gerstl wurde am 16. Juni 1932 als Tochter eines jüdischen Zahnarztes in Wien geboren. Die Eltern ließen sich bald scheiden. Elfriede wuchs bei ihrer Mutter, ihrer Tante und ihrer Großmutter auf. Sie stammte aus einer liberalen jüdischen Familie.
Während der Vater emigrierte, blieb Elfriede in Wien. Die kleine Familie wurde im Jahre 1942 aus der Wohnung in der Neulinggasse vertrieben. Die meisten Möbel mussten zurück gelassen werden. Zunächst landete sie in einer Substandardwohnung in der Rembrandtstraße 28 im zweiten Wiener Gemeindebezirk.
Als die Großmutter starb, war an Flucht gar nicht mehr zu denken. Gestapo-Beamte wollten sie immer wieder mitnehmen, die Mutter hielt sie mit “Tricks” hin, indem sie bspw. behauptete, sie würde Unterlagen nachbringen. Sogar eine Art “Ariernachweis” legte die Mutter vor, ohne Stempel! Es ist erstaunlich, dass die Gestapo auf diese Art und Weise hingehalten werden konnte, doch dies wird - selten aber doch - öfters vorgekommen sein.
Im Sommer 1942 war es aber soweit, und die “Abholung” für den folgenden Tag vorgesehen. In der Nacht vor diesem Tag, der verhängnisvoll gewesen wäre, flüchteten Elfriede und ihre Mutter, nur mit einem kleinen Köfferchen mit wenigen Habseligkeiten ausgestattet. In der ersten Zeit lebten sie im Haus, wo sie schon früher gewohnt hatten. Die Hausbesorgerin versorgte sie mit Lebensmitteln. Die Tante von Elfriede kam nur fallweise und brachte Nachrichten von außen. Sie war durch ihren nichtjüdischen Mann geschützt.
Schließlich mussten Mutter und Tochter mehrfach das Quartier wechseln. Elfriede und ihre Mutter lebten bis zur Befreiung 1945 als “U-Boote” in Wien, sie blieben also versteckt und mussten sich über die ganze Zeit still verhalten. Das war insbesondere für Elfriede, die ja doch noch ein Kind war, nicht immer einfach.
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“Es gab viele alltägliche Probleme: Kleidung - ich habe meistens Sachen angehabt, die mir entweder zu groß oder zu klein waren. Das größte Problem war, Schuhe zu bekommen, weil ich war ja ein Kind, und meine Füße sind schließlich gewachsen. Das war das größte Problem. Ich bin lange Zeit in viel zu kleinen Schuhen herumgegangen und hab davon einen Fersensporn bekommen, das war sehr schmerzhaft. Schließlich bin ich dazu übergegangen, die Fersen der Schuhe niederzutreten, nur um die Ferse frei zu haben, weil ich schon furchtbare Schmerzen gehabt habe. Ich hab immer zu enge Schuhe gehabt. Sonst kann man ja auch mal etwas zu Großes anziehen, aber bei den Schuhen ist das anders. [...]
Manchmal hätten wir schon ärztliche Hilfe gebraucht. Meiner Mutter sind so nach und nach die Zähne abgebrochen. Aber sie hat sich nicht getraut, einen Zahnarzt aufzusuchen. Nur einmal, als ich eine Kinderkrankheit hatte, kam unsere frühere Hausärztin. [...]
Für meine Mutter war es natürlich auch eine bedrückende Situation. Sie war total eingeengt, es war furchtbar und einengend. Ich glaube aber, dass es für ein Kind noch schlimmer ist. [...]
Wir sind ja faktisch die ganze Zeit im Bett gelegen. Man durfte keinen Lärm machen, man sollte sich nicht am Fenster zeigen. In der Wohnung, wo wir im dritten Bezirk unterm Dach versteckt waren, da hat man auch darauf achten müssen, wann man auf die Toilette geht, wann man Wasser in der Küche nehmen kann. Da hat uns die Hausmeisterin gesagt, zu welchen Zeiten die Leute weg und wann sie im Allgemeinen da sind. Tagsüber haben die gearbeitet, abends waren sie zu Hause. Da musste man erst recht leise sein. So konnten wir eigentlich hauptsächlich nur liegen, schauen oder lesen.”
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Nach der Befreiung erhielt Elfriede Gerstl Unterricht durch einen Hauslehrer. Sie absolvierte erfolgreich die externe Hauptschulprüfung. Ab dem Jahr 1948 besuchte sie - erstmals - eine öffentliche Schule, und zwar die Maturaschule in der Hörlgasse. Im Jahre 1951 bestand sie die Externistenmatura. Danach begann sie Medizin und Psychologie zu studieren, schloß diese Studien jedoch nicht ab.
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“Dieses Leben im Verborgenen hat schon sehr entscheidend auf mein weiteres Leben gewirkt: Wenn Sie sich vorstellen können, wie wichtig es für ein Kind ist, Kontakte zu Gleichaltrigen zu haben. Ich war von all dem abgeschnitten. Ich war von Kontakten mit Gleichaltrigen abgeschnitten, abgeschnitten von möglichen Vorbildern - mich überhaupt nur im Freien zu bewegen, spazieren zu gehen oder Sport zu betreiben -, all das, was sonst als Selbstverständlichkeit überhaupt nicht wahrgenommen wird, war mir nicht möglich. Also man kann schon von Gefängnissymptomen sprechen.
Ich hab die erste Zeit Schwierigkeiten danach gehabt, in ein Geschäft zu gehen und Semmeln einzukaufen, weil das so ungewohnt war. Ich bin auch die ersten Jahre fast nur mit meiner Mutter ausgegangen. Ich bin ganz wenig allein weggegangen. Ich hab große Schwierigkeiten gehabt, ein Gespräch zu beginnen. Ich erinnere mich, wie ich mich Jahre später zu einem Zeichenkurs anmelden wollte, da bin ich drei Tage hingefahren, bin ins Haus, bin wieder heimgefahren, bis ichs endlich einmal geschafft hab, da reinzugehen und mich für den Kurs anzumelden. Das ist mir schon oft gesagt worden, dass ich das doch schriftstellerisch bearbeiten sollte. Das ist ja sehr unangenehm und selbstquälerisch, sich überhaupt an diese Zeit, an die ganze Situation zu erinnern. Das würde wirklich eine Analyse brauchen, und das hab ich mir halt immer erspart. Aber ich hab es in einigen Fällen aufgeschrieben, aber nicht so ausführlich, wie ich könnte. Ich glaube, die Opfer haben als Einzige das Recht, zu vergessen.”
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Während des Studiums schloß sich Elfriede Gerstl der "Arbeitsgruppe für junge Autoren" an, die von Hermann Hakel geleitet wurde. Sie lernte u.a. Walter Buchebner und Friedrich Polakovics kennen. Letzterer druckte ihre ersten Gedichte in der Zeitschrift “Neue Wege”. In dieser Zeit begann auch ihre lebenslange Freundschaft mit Andreas Okopenko.
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Gerald Bisinger lernte sie 1958 kennen. Sie war um diese Zeit herum freie Mitarbeiterin der Arbeiter-Zeitung und besuchte Veranstaltungen der “Wiener Gruppe”. Sie heiratete Gerald Bisinger im Jahre 1960. Aus dieser Beziehung ging Tochter Bellina hervor. 1968 folgte die Scheidung.
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1962 erfolgte mit ihrem Gedichtband "Gesellschaftsspiele mit mir" ihre erste selbständige Veröffentlichung.
1963 verließ Elfriede Gerstl die beengten Wiener Wohn- und Lebensverhältnisse. Sie zog fast mittellos nach Berlin, wo sie 1964 Gast des "Literarischen Colloquiums Berlin" war. Zusammen mit Hubert Fichte und Peter Bichsel verfasste sie im Jahre 1965 den Gemeinschaftsroman "Das Gästehaus".
Hernach konzipierte sie 1968 und 1969 unter dem Eindruck der politischen Ereignisse ihren Prosatext "Spielräume", in dem sie die ritualisierte Scheinkommunikation der Berliner bzw. Wiener Subkulturszene vorführte. Sie beschrieb auch die Probleme, als weibliche Intellektuelle angemessen zu leben. Diesen Avantgarderoman hatte sie mit im Gepäck, als sie 1972 Berlin verließ und nach Wien zurück kehrte. Erst mit beinahe einem Jahrzehnt Verspätung sollten die "Spielräume" 1977 in der Linzer "edition neue texte" erscheinen.
1973 war sie eine der Gründungsmitglieder der “Grazer Autorinnen Autorenversammlung”. Sie blieb viele Jahre Vorstandsmitglied, 1992 trat sie aus der GAV aus, machte diese Entscheidung aber 1996 rückgängig.
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Die Wohnsituation von Elfriede Gerstl erwies sich bis Ende der 1970´er Jahre als sehr unsicher. Sie “wohnte” fast schon in den Wiener Innenstadtcafés, wie dem Café Bräunerhof, dem Café Museum oder dem Hawelka. Veröffentlichungen erfolgten in den Literaturzeitschriften "Akzente", "Freibord", "Wespennest", und später auch “kolik”.
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mein himmel ist hier und jetzt
mein himmel ist meine vorstellung
von himmel
er ist die freundlichkeit
verlässlichkeit
anteilnahme
bei glücks- und unglücksfällen
mein himmel ist nicht voller geigen
sondern voll solidarität
mein himmel ist auch eine utopie
von einer gerechteren welt
in der einsicht und nachsicht
tägliche realität sein sollte
himmel ist das festgeknüpfte netz
ähnlich denkender und fühlender
und das glück
ihm anzugehören
wenn es noch einen anderen himmel
geben sollte
lasse ich mich überraschen
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Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit organisierte sie auch zahlreiche literarische Veranstaltungen, so etwa in der “Alten Schmiede” und im “Literaturhaus Wien”. Auch als Essayistin machte sie sich einen Namen, der “Falter” etwa gab Essays von ihr heraus.
Elfriede Gerstl galt auch als leidenschaftliche Sammlerin von Mode, insbesondere aus den 1920´er bis 1970´er Jahren. Sie veranstaltete im Laufe der Jahre auch einige Modeschauen. Ihr autobiographisches Gedicht des gleichnamigen Buches “Kleiderflug” (veröffentlicht 1995) machte erstmals die autobiographischen Zusammenhänge vom Leben im Versteck und der "Sammelwut" sichtbar.
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Elfriede Gerstls literarisches Werk zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihre Themen mit analytischen Sprach- und Formexperimenten sowie Montagetechniken verbunden hat. Ihre Texte sind als Arbeiten im Sinne der österreichischen Variante der Frauenliteratur anzusehen, vergleichbar mit jenen von Elfriede Jelinek und Elfriede Czurda. Sie veröffentlichte zahlreiche Gedichte, Essays, Prosastücke und Arbeiten für den Rundfunk, wobei sie die Genres nicht streng trennte und in ihren Büchern häufig gleichberechtigt zu Wort kommen ließ.
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Im Herbst 2008 schrieb Elfriede Gerstl:
"ich möchte niemandem / die maske vom gesicht reissen / ich will nicht sehen / was darunter alles nicht ist"
In ihrem Todesjahr 2009 wurde ihre letzte Veröffentlichung, “lebenszeichen – gedichte träume denkkrümel.”, vom Verlag Droschl herausgegeben. Das Nachwort hierfür schrieb Elfriede Jelinek.
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Gesellschaftsspiele mit mir. Gedichte und Kurzprosa. Kulturamt der Stadt Linz 1962.
Berechtige Fragen. Hörspiele. Wien und München: Edition Literaturproduzenten / Jugend und Volk 1973.
Spielräume. Mit einem Nachwort von Heimrad Bäcker. Graz: edition neue texte / Literaturverlag Droschl 1993.
Narren und Funktionäre. Essays. Wien 1980.
Wiener Mischung. Gedichte und Kurzprosa. edition neue texte, Literaturverlag Droschl, Linz/Graz 1982.
eine frau ist eine frau ist eine frau … autorinnen über autorinnen (Herausgeberin). Wien: Promedia 1985.
Vor der Ankunft. Reisegedichte. Viersprachige Ausgabe, deutsch-englisch-französisch-italienisch, Wien: Freibord-Verlag Sonderreihe 1988.
Ablagerungen. Herausgegeben zusammen mit Herbert J. Wimmer. Graz: edition neue texte / Droschl 1989.
Unter einem Hut. Gedichte und Essays. Wien: Deuticke 1993.
Kleiderflug – Texte Textilien Wohnen. Mit Fotografien von Herbert J. Wimmer. Wien: Edition Splitter 1995.
Die fliegende Frieda. Ein Jugendbuch. Mit Illustrationen von Angelika Kaufmann. Wien: Edition Splitter 1998.
Alle Tage Gedichte. Schaustücke und Hörstücke. Wien: Deuticke 1999.
neue wiener mischung. Mit einem Nachwort von Konstanze Fliedl. Graz: edition neue texte / Droschl 2001.
LOGO(S) – ein schachtelbuch. fünfzig text-ansichts-karten. (Zusammen mit Herbert J. Wimmer) Graz: Droschl 2004.
mein papierener garten. gedichte und denkkrümel. Graz: Droschl 2006.
lebenszeichen – gedichte träume denkkrümel. Mit einem Vorwort von Elfriede Jelinek. Mit Illustrationen von Angelika Kaufmann und anderen. Graz: Droschl 2009.
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1978 Theodor-Körner-Preis
1978 Förderungspreis des Wiener Kunstfonds
1984 Österreichischer Würdigungspreis für Literatur
1990 Literaturpreis der Stadt Wien
1997 Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien
1999 Georg-Trakl-Preis
1999 Erich-Fried-Preis
2003 Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in Gold
2004 Ben-Witter-Preis der Ben-Witter-Stiftung
2007 Heimrad-Bäcker-Preis
2009 (postum) Premio Roma für Spazi per giocare con la mente
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Elfriede Gerstl starb am 9. April 2009 in Wien.
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2010 wurde der Elfriede-Gerstl-Steg im Stadtpark nach ihr benannt.
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Wikipedia
Österreichische Nationalbibliothek: Elfriede Gerstl
Wien Geschichte Wiki: Elfriede Gerstl
literaturport.de: Elfriede Gerstl
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes:
Elfriede Gerstl: Von allem abgeschnitten
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes:
Elfriede Gerstl: Als Einzige das Recht, zu vergessen
derstandard.at: Elfriede Gerstl: Vorstöße in die allertiefsten Tiefen menschlicher Existenz
lyrikline.org: mein himmel
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